Immer erreichbar? FHWN-Studie untersucht neuen Arbeitsalltag Wiener Neustadt, 4. Juni 2020 – Erinnern Sie sich an das Blackberry? Dieses Handy-Modell war vor der Verbreitung der Smartphones die Garantie für die berufliche Erreichbarkeit – immer und überall. Das Blackberry war jedoch insbesondere Führungskräften vorbehalten. Dann brachte Apple 2007 das erste Smartphone auf den Markt. Dessen Verbreitung verlief genauso rasant wie der Ausbau anderer Technologien für digitales Arbeiten. Das hat eine Veränderung in der Arbeitswelt herbeigeführt, von der längst nicht mehr nur Führungskräfte betroffen sind: Wir sind immer und überall erreichbar und viele können ihre beruflichen Tätigkeiten (zumindest teilweise) jederzeit und jederorts verrichten. Dieses Phänomen des „ubiquitären Arbeitens“ tritt durch den Corona-Shutdown in einer außergewöhnlichen Deutlichkeit zutage. Ein Forschungsteam der Fachhochschule Wiener Neustadt nahm diese Situation zum Anlass, die entgrenzte Erreichbarkeit und das ubiquitäre Arbeiten unter die Lupe zu nehmen. Gefördert wird das Forschungsprojekt “NERD - Nutzen, Effekte und Risiken der Regulierung digitaler Erreichbarkeit” durch den Zukunftfonds der Arbeiterkammer Niederösterreich unter dem Stichwort „Arbeit 4.0“. Nun liegen die ersten Ergebnisse von 40 Interviews vor, die mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus diversen Branchen und aus allen politischen Bezirken Niederösterreichs geführt wurden. Neben der ganzheitlichen Erfassung der erweiterten Erreichbarkeit im Alltag wurde aus gegebenem Anlass vor allem die aktuelle Corona-Situation genauer beleuchtet. Größere Flexibilität oder Verschwimmen der Grenzen? Was dabei zutage tritt überrascht niemanden, der in den letzten Wochen in seinem Bekanntenkreis gefragt hat, wie es den Leuten mit der aktuellen Situation geht: Die Bewertung könnte unterschiedlicher nicht sein. Das gilt auch für die entgrenzte Erreichbarkeit. Die einen begrüßen die Flexibilität, die Ihnen dadurch eröffnet wird, beispielsweise um Berufstätigkeit und Kinderbetreuung zu vereinen oder um sich die Zeit flexibler nach den eigenen Bedürfnissen einzuteilen. Die anderen beklagen das Verschwimmen der Grenzen zwischen der Arbeit und dem Privatleben. Es ist zu beobachten, dass mehr berufliche Kommunikation auch abends noch stattfindet und sich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereit erklären oder gezwungen fühlen, auch außerhalb regulärer Arbeitszeiten bzw. länger erreichbar zu sein als gewöhnlich. Als besonders schwierig wird die Bemessung der Arbeitszeit empfunden. Durch häufige Pausen oder Unterbrechungen bei der Arbeit fällt die Erfassung der Arbeitszeit schwerer als gewöhnlich.  Ein beträchtlicher Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist von Kurzarbeit betroffen. Aus ihren Reihen wird berichtet, dass sich die Kontaktaufnahme durch Vorgesetzte, Kolleginnen und Kollegen und eventuell auch Kundinnen und Kunden deutlich reduziert hätten. Führungskräfte als Schlüsselfiguren Die interviewten Personen wurden auch nach Ihren Vorschlägen für Umgangsstrategien mit entgrenzter Erreichbarkeit gefragt. Hier wurde auf die Bedeutung von Abmachungen, etwa im Zuge von Mitarbeitergesprächen verwiesen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wünschen sich Klarheit in Bezug auf die Erwartungshaltung. Es wäre auch denkbar, Vereinbarungen (etwa in Form von Betriebsvereinbarungen) zu treffen, die Rahmenzeiten für die Erreichbarkeit festlegen. Schwierig wird es, wenn die emotional vermittelte Erwartungshaltung abweicht: Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben den Eindruck, dass es von ihnen erwartet würde, jederorts und jederzeit erreichbar zu sein. Dabei ist die Vorbildwirkung der Vorgesetzten nicht zu unterschätzen. „Denn das Verhalten der Führungskraft wird häufig als Maßstab für die Erwartung an das eigene Arbeitsverhalten interpretiert,“ erklärt Dr. Karin Wegenstein, die das Forschungsprojekt leitet. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre mit verstärkter Reflexion durch alle Beteiligten getan: Die Chefin oder der Chef müsse nicht „zu den unmöglichsten Zeiten“ anrufen, wie eine Arbeitnehmerin zu verstehen gibt. Auch die Unternehmenskultur spielt hier eine Rolle. Ein Interviewpartner schlägt vor, Werte in Bezug auf das Menschenbild zu reflektieren und einfließen zu lassen. Dabei soll auch auf unterschiedliche Präferenzen eingegangen werden. Individuelle Strategien Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer legen sich auch individuelle Strategien im Umgang mit entgrenzter Erreichbarkeit zurecht. Manche berichten von fixen Zeiten, die für Freizeit reserviert sind. Andere machen den Status der Verfügbarkeit im Online-Besprechungstool bzw. Online-Kalender sichtbar. Manche reagieren nur auf Nachrichten bzw. Anrufe aus einem bestimmten Personenkreis und priorisieren eingehende Nachrichten. Interessant ist auch, die Bildschirmzeit zu tracken, sodass das eigene Verhalten bewusster wird. Häufig wird außerdem eine klare Trennung der Geräte gewünscht. „Bei Privatverabredungen bleibt das Firmenhandy zuhause“ und natürlich können die Benachrichtigungstöne ausgeschaltet werden. „Alles abzudrehen ist ein spitzbübisches Vergnügen“, sagt ein Interviewpartner: „das gönnt man sich dann wie Verstecken spielen”. Um den Umgang mit erweiterter Erreichbarkeit zu erleichtern, wird vom NERD-Forschungsteam der FH Wiener Neustadt in Zusammenarbeit mit der FOTEC Forschungs- und Technologietransfer GmbH jetzt eine App zur Selbststeuerung digitaler Erreichbarkeit entwickelt.